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Erster Satz:
"Es ist der Beginn einer Geschichte."
Wow! Was für ein Buch! …. das fällt mir als erstes zu diesem Werk ein. Ansonsten habe ich nun zugegebenermaßen Schwierigkeiten, meine Gedanken und Emotionen in Worte zu fassen, denn dieses Buch hat mich wütend und traurig gemacht, fassungslos und hoffnungsvoll. Es ist eines jener Juwelen, die man nur sehr selten findet und die fortan für immer einen Platz im Herzen und auch im Bücherregal haben werden.
Laetitia Colombani versteht es wunderbar, den Leser von der ersten Seite, vom ersten Satz an mitzunehmen auf eine unwegsame Reise. Eine Reise, auf der Kämpfe sowohl mit der Gesellschaft, mit vertrauten Personen als auch mit dem eigenen Ich ausgefochten werden müssen. Eine Reise, die uns nach Indien, nach Sizilien und nach Kanada führt.
Drei Lebensgeschichten von drei Frauen sind es hierbei, die auf dieser Reise erzählt werden. Drei Schicksale auf drei verschiedenen Kontinenten, die wie die drei Strähnen eines Zopfes miteinander verschlungen und schlussendlich alle mit einem Band zusammengebunden werden.
Wir lernen zunächst Smita kennen, die im bettelarmen Indien zusammen mit ihrem Mann und ihrer Tochter zu den Allerärmsten gehört. Die keiner Kaste angehört und somit als "Dalit" von ihren Mitmenschen gemieden wird wie die Pest. Smita wohnt mit ihrer Familie in einer kleinen Hütte am Rande der Gesellschaft und übt den "Beruf" aus, den schon ihre Mutter und Großmutter und Generationen davor ausgeübt haben: Sie ist Kotsammlerin.
"Nie wieder. Das hat sie sich geschworen. Nie mehr nach Luft ringen müssen. Sie will endlich frei atmen, in Würde." - Zitat Seite 216
Smitas Geschichte hat mich sprachlos gemacht, denn mehrmals musste ich das Buch zur Seite legen, um im Internet zu recherchieren..... um dann völlig fassungslos weiterzulesen. Denn Fakt ist: Im Jahr 2014 stand mehr als der Hälfte der indischen Bevölkerung keine Toilette zur Verfügung. Tatsächlich sind die Dalit, die "Unberührbaren" dafür zuständig, auf der Straße den Kot aufzusammeln und in den Häusern der Reichen die Trockentoiletten zu reinigen. Mit Eimer und Schaufel....oder mit bloßen Händen. Als Lohn bekommen sie dafür lediglich Essensreste. Wenn sie Glück haben. Sie stehen auf der allerniedrigsten Stufe und haben auch keinerlei Chance, jemals aufzusteigen.
Smita wünscht sich für ihre Tochter Lalita, die nun sechs Jahre alt ist und eigentlich anfangen müsste, ebenfalls als Kotsammlerin zu arbeiten, die Möglichkeit, zur Schule zu gehen und kämpft mit allen Mitteln dafür. Ein Kampf, der einer indischen Frau nicht zusteht. Wir begleiten sie ein Stück weit auf dieser sehr steinigen Straße, die sich nun vor ihr auftut und bekommen die ganze Breitseite dessen, was in Indien den Frauen angetan wird, hingeknallt. Mehrmals noch musste ich im Netz nachschlagen und jedes mal war ich völlig schockiert.
Giulia lebt in Palermo ein recht behütetes Leben, wird von ihrer Mamma bekocht, hat öfter mal Streit mit ihren Schwestern und ist der Sonnenschein ihres Vaters, in dessen Fabrik sie arbeitet. Die Familie betreibt seit Generationen eine Perücken-Manufaktur und Giulia hat von der Pike an gelernt, welche Haare sich dafür eignen und wie sie gebleicht, gefärbt und verarbeitet werden müssen. Mit den zehn Arbeiterinnen, von denen manche schon fast ihr ganzes Leben in der Fabrik angestellt sind, wird sie behandelt wie eine Tochter. …. und dann bricht ihre Welt von einem Augenblick auf den anderen auseinander. Der Vater hat einen schweren Unfall und liegt fortan im Koma und Giulia findet heraus, dass das Familienunternehmen kurz vorm Bankrott steht. Nun liegt es an ihr - sie muss kämpfen, neue Wege finden und vor allem Mut haben und an sich glauben. Sich über den Rest der Familie hinwegsetzen und Wagnisse eingehen.
Sarah ist in Montreal in einem Leben gefangen, das man niemandem wünscht, das ihr nur leider erst zu spät bewusst wird. Sie ist alleinerziehende Mutter von drei Kindern und erfolgreiche Anwältin. Immer aus dem Ei gepellt, immer voll da, perfekt organisiert und niemals auch nur die Spur nachlässig. Sie liebt ihre Kinder, trotzdem ist ihre Arbeit alles, was für sie zählt. Die Aufstiegschancen und die damit verbundene Anerkennung - dafür lebt sie. So hat sie sämtliche Schwangerschaften erfolgreich verheimlicht, sich für die Geburten jeweils zwei Wochen Urlaub genommen und war anschließend wieder voll einsatzbereit.
Und dann kommt der Tag, an dem sie zusammenbricht. Plötzlich und unerwartet. Gefolgt von einer niederschmetternden Diagnose. Gekrönt von der Erkenntnis, dass die Welt, ihre Welt ein Haifischbecken ist.
"Sie erinnert sich an diesen Satz in einem Tierbuch für Kinder: >> Fleischfresser erweisen der Natur einen Nutzen, indem sie die Schwachen und Kranken verschlingen.<< Ihre Tochter musste weinen, als sie das hörte. Sarah versuchte, sie zu trösten, versicherte ihr, dass die Menschen dieses Gesetz nicht befolgen. Sie wähnte sich auf der sicheren Seite, in einer zivilisierten Welt.
Sie hat sich getäuscht. - Zitat Seite 239
Jede der Frauen hat ein völlig anderes Schicksal zu meistern - und doch sind sie alle gleich: Sie kämpfen für ihre Träume und für ihre Existenz. Sie lassen sich nicht von ihrem Weg abbringen und umgehen jedes noch so große Hindernis. Sie fallen oft und stehen dennoch immer und immer wieder auf.
Laetitia Colombani vermittelt dem Leser in einer wunderbar klaren und schnörkellosen Sprache, dass man niemals aufgeben sollte, auch wenn die Situation noch so hoffnungslos erscheint. Ein Buch, das Mut macht, das sehr zum Nachdenken anregt und das noch lange nachhallen wird. MEIN FAZIT lautet hier: 5 VON 5 GLITZERSTERNEN!
INFOS ZUM BUCH
TITEL: Der Zopf
AUTOR: Laetitia Colombani
VERLAG: S. Fischer (www.fischerverlage.de)
ISBN: 978-3-10-397351-8
ERSCHIENEN im März 2018
FORMAT: gebunden
SEITEN: 291
PREIS: 20,00 Euro
TITEL DER ORIGINALAUSGABE: La Tresse
AUS DEM FRANZÖSISCHEN VON: Claudia Marquardt