Erster Satz:
"Alisa hatte verschlafen."
... und vermutlich weiß jeder von uns wie das ist, wie man sich dann fühlt. Dieser kurze Moment des Unverständnisses, wenn man schlaftrunken auf die Uhr schaut, ganz kurz darauf gefolgt von der absoluten Hektik, die zu dem Zeitpunkt einsetzt, an dem man realisiert, dass man zu spät kommt. Viel zu spät. Dass man der Zeit hoffnungslos hinterherrennt und doch schon alles verloren ist. Zumindest für diesen Tag, für diesen einen Termin, der doch so wichtig ist, verdammt.
Alisa rennt der Zeit, ihrem Leben und vor allem sich selbst schon lange hinterher. Immer unter Strom stehend, mehrere Jobs gleichzeitig ausübend, allerbeste Noten in der Schule kurz vor dem Abitur schreibend und doch.... unzufrieden. Mit sich, mit ihrem Leben und besonders mit ihrem Körper. Sich permanent mit den falschen Leuten umgebend, die allesamt genau so ein krankes Körperbild haben wie sie und verzweifelt um die Liebe der Mutter bettelnd, die reines Gift für sie ist, braucht Alisa ein Ventil. Ein Ventil, um diesen Stress, diesen Schmerz, diesen alles überdeckenden Druck auszuhalten. Und so kauft sie regelmäßig die ungesündesten Nahrungsmittel in Mengen, vernichtet sie zwanghaft und ohne Genuß und erbricht anschließend alles wieder.
"Doch morgen war immer bloß ein weiteres Heute."
- Zitat Seite 47 -
Dass sie krank ist, weiß Alisa. Dass diese Bulimie ihr alle Kraft raubt und sie dermaßen lähmt, dass sie im Alltag nicht mehr funktioniert, nicht mehr funktionieren kann, ist ihr absolut klar. Dass sie damit aufhören muss, weiß sie ebenso. Aber sie kann nicht. Sie nennt diese Bulimie Mia, als ob es ihre Freundin wäre, ihre beste Freundin, die immer für sie da ist.
Masha, die mit ihr zusammenwohnt und eigentlich für sie da sein sollte, hat ein genauso gestörtes Essverhalten wie Alisa und bestätigt sie damit in ihrer Sucht. Denn man kann ja gar nicht dünn genug sein und "extrem dünn" ist immer noch viel zu dick. Hat Masha Probleme, ist Alisa ohne Wenn und Aber für sie da und jederzeit bereit, zu helfen. Hat Alisa Probleme.... nun, dann muss sie ganz allein damit fertig werden. Und Probleme hat sie genug, das dürfte jedem klar sein.
"... Ich weiß nicht, was mit mir los ist, aber ich kriege das alles nicht hin. Ich habe keine Kraft, bin müde. Ich will einfach nicht mehr leben. Das ist die Wahrheit. Ich will einfach nicht leben."
"Du bist eine Egoistin, Alisa. Deine Probleme sind alle selbstgemacht. Ich habe dich gesund zur Welt gebracht und ich habe darauf geachtet, dass du dich weder verbrühst noch dir das Genick bricht, als das in meiner Verantwortung lag. Jetzt bist du erwachsen. Mach, was du willst."
- Zitat Seite 69 -
Auch wenn man zunächst glauben könnte, dass Alisas Essstörung das Hauptthema dieses Romans ist, wird einem schon sehr schnell deutlich gemacht, dass es um viel mehr geht: Um eine Mutter-Tochter-Beziehung, die absolut zerstörerischer Natur ist. Um die Beziehung von Alisa zu ihrer Mutter Tanya. Um die Beziehung einer Tochter, die um das kleinste bisschen Aufmerksamkeit bettelt, zu einer Mutter, der sie niemals gut genug sein wird.
"Darüber nachzudenken, warum ich an einer Sache schuld war, hatte ich schon vor Jahren gelernt. Vielleicht so mit drei. Damals musste mir Mama noch dabei helfen. Nach jeder Antwort, die ich gab, fragte sie einfach immer weiter:" Und warum? " Irgendwann wusste ich, warum ich schuld war. Dann musste ich mich nur noch entschuldigen und abwarten, bis ihr Groll auf mich vorbei war."
- Zitat Seite 137 -
Alisa weiß, dass sie mit ihrer Krankheit tagtäglich ein kleines Stück mehr von ihrem Leben opfert, allein kommt sie dort allerdings nicht heraus. Und so kommt es wie es kommen muss und sie begibt sich stationär in Therapie. Weit weg von Berlin, wo sie wohnt, weit weg von ihrer Mutter. Immer noch hält sie sich für furchtbar fett und plump und monströs und wird zunächst von den Mitpatienten auch in dieser Meinung bestätigt. Und doch... hat man als Leser die Hoffnung, dass diese kaputte junge Frau, die man meistens am liebsten in den Arm nehmen und trösten möchte, nun endlich an einer wichtigen Kreuzung ihres Lebensweges steht.
"Ich habe einfach noch nicht gelebt. Ich habe gewartet..."
"Worauf denn?"
"Dass ich dünn genug bin, mit meinem Leben zu beginnen..."
Zitat Seite 174
Die Therapie, die Mitpatienten und viele Gespräche machen etwas mit Alisa. Dünn sein hat bei ihr immer noch oberste Priorität, dennoch hat man als Leser das Gefühl, dass es irgendwann bei ihr "Klick" macht.
Während der Therapie schreibt sie ihre Lebensgeschichte auf, die einen dazu bringt, die Mutter zu verachten. Die keinerlei Verwunderung mehr darüber zulässt, warum Alisa so geworden ist wie sie ist.
Und dann....passiert etwas. Etwas, das von Alisa initiiert wird und das einem den Atem stocken und Seite um Seite umblättern lässt. Fassungslos. Schockiert. Voller Bestürzung. Manchmal mitleidig, meistens jedoch mit der Erkenntnis, dass im Endeffekt alles so kommen musste. Und am Ende.... ist man entsetzt. Und man freut sich. Das auch. Sehr sogar. Aber das lest Ihr am besten selbst.
"Ich will einfach jemand sein. Jemand, auf den meine Mutter stolz wäre..."
- Zitat Seite 177 -
Mit Bianca vom Blog Literatwo habe ich mich während des Lesens von "Jägerin und Sammlerin" sehr viel ausgetauscht. Wir beide sind große Fans von Lana Lux's Romanen, haben uns aber auch die ein oder andere Frage gestellt und mögliche Antworten diskutiert.
Zum Beispiel gibt es einen Satz im Buch, der mich stutzen ließ und die Frage kam auf, ob dieser Roman teilweise autobiographisch sein kann? Genau wie ihre Protagonistin Alisa ist auch die Autorin aus der Ukraine eingewandert, andere Gemeinsamkeiten kann ich hier leider noch nicht verraten. Nur soviel: Am Ende ist von einem Instagram-Account die Rede, der auch im wahren Leben existiert.
Dann das Cover: Wie passt ein niedliches Eichhörnchen zu dieser Geschichte? Und würde man von Cover und Titel her nicht eher auf einen Abenteuerroman, der in der Wildnis spielt, schließen? - Lasst Euch gesagt sein: Beides passt wunderbar und am Ende werdet Ihr auch wissen, wer die Jägerin und wer die Sammlerin ist.
Stilistisch ist dieser Roman großartig, denn die Autorin versteht es, mit Worten umzugehen, ihnen Leben einzuhauchen, mit ihnen zu spielen und sie in ihrer ganz eigenen Melodie eine Geschichte erzählen zu lassen. Obwohl das Thema Bulimie sicherlich kein einfaches ist, geht Lana Lux mit allem nötigen Respekt heran und lässt es niemals überspitzt erscheinen.
Mein Fazit: Ein grandioses Buch, das auf jeden Fall jetzt schon zu meinen Highlights in 2020 zählt. 5 VON 5 GLITZERSTERNEN!
Biancas Rezension findet Ihr HIER
INFOS ZUM BUCH
TITEL: Jägerin und Sammlerin
AUTOR: Lana Lux
VERLAG: Aufbau Verlag
ISBN: 978-3-351-03798-7
ERSCHIENEN im März 2020
FORMAT: Gebunden
SEITEN: 304
PREIS: 20,00 Euro